Es wurde in grünen Kreise viel gejammert, dass Bündnis90/die Grünen doch nicht so viele Stimmen geholt hat, wie wir alle es erhofft hatten. Als Ursachen wird dabei immer wieder neben den offensichtlichen professionellen Fehlern auch genannt, dass viele Bürger davor zurückschrecken, die Grünen zu wählen, weil sie auf den Weg in eine grüne Gesellschaft befürchten, dass sie stärker belastet werden als bisher. Daran glaube ich aber nicht.
Unsere Gesellschaft ist grün.
Unsere Gesellschaft ist inzwischen nämlich viel grüner, als wir es meinen. Das wird deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, was die Grünen in ihren Anfangsjahren wollten: Sie setzten sich dafür ein, dass die Kernkraft abgeschafft wird und die Gesellschaft weniger fossile und mehr nachhaltige Energie verbraucht, dass Umweltbelastungen wie Lärm und Abgase reduziert sowie die Land- und Fortwirtschaft umgebaut werden. Sie forderten, dass die Wehrspflicht abgeschafft und homosexuelle Lebensformen der Ehe gleichgestellt werden. Die forderten die Emanzipation der Frauen. Sie forderten Recycling von Gebrauchsmaterialien und die Reduzierung des Energieeinsatzes. Den Gedanke, sich ohne Benzin oder Diesel im Verkehr zu bewegen oder eine Haus ausschließlich über alternative Energie zu heizen, formulierten damals eigentlich nur ausgewiesene Träumer. Und all das galt noch in den 90er Jahren als illusionär. Nur grüne Spinner konnten so etwas fordern. Und jetzt? Vieles wurde umgesetzt und ist selbstverständlich geworden. Über das, was noch nicht umgesetzt wurde und am Werden ist, wird ernsthaft diskutiert. Jetzt denkt unsere Gesellschaft viel grüner, als wir es zu hoffen wagten.
Aber, so wird man jetzt einwenden, das habt doch gar nicht ihr bewirkt, sondern die anderen Parteien, die an der Macht waren. Richtig, aber sie haben es nicht aus Jux und Tollerei gemacht, sondern weil grünes Gedankengut und grüne Werte in der Gesellschaft angekommen sind. Wer damit heute damit angibt, dass er seinen Müll nicht trennt, muss damit rechnen, dass schräg angesehen wird. Wer fordert, dass die Kernkraft weiter gefördert wird, landet schnell im Abseits abendlicher Gespräche. Unsere Gesellschaft denkt grün. Daher ist es unsinnig dem Wähler vorzuhalten, er wolle die Veränderung nicht. Er will sie und es ist unsere Aufgabe, diese Veränderungen offensiv politisch zu moderieren. Es ist auch nicht nötig, dass wir unsere Mitbürger überzeugen. Die Bürger erwarten vielmehr von uns, dass wir ihnen verlässlich einen praktikablen Weg in eine ökologische Zukunft zeigen. Aber das geht nicht, wenn man bei einer Bundestagswahl ängstlich an der Oberfläche bleibt und sich hinter Worthülsen versteckt.
Politische Vernunft und lauter Protest
Wir sollten uns aber auch ernsthaft überlegen, warum uns, obwohl die Gesellschaft so grün denkt, nur so wenige wählen und warum andere, die unsere Ideen übernommen haben, mehr Wähler haben. Ich denke, dass Annalenas Abstieg uns darauf eine Antwort geben kann: Kaum war die dynamische, freche, faktensichere und unbeschwerte junge Frau zur Kandidatin gekürt worden, wurde sie vorsichtig, versuchte, Fehler zu vermeiden (was ihr zumindenst bei den öffentlichen Auftritten gelang), und präsentierte sie sich nur noch mit Textbausteinen, die wie auswendig gelernt wirkten. Die Unsicherheit war zum Greifen nah, besonders als sie auch noch nach den ersten Angriffen versuchte, die Zeit für sich arbeiten zu lassen, was dazu führte, dass sich die Gegner formieren konnten. Das war nicht mehr unsere Annalena! Und genauso wenig wie Annalena trauen wir uns, die Grünen zu sein, die wir sein könnten: Wir verwalten zu viel alternative Vergangenheit und trauen uns nicht mehr, die Luftschlösser der Zukunft zu bauen. Wir sind nicht mehr frech und fordernd, wir opfern unsere Träume dem politischen Kakül. Aber ich denke, dass beides funktioniert: Politische Vernunft und lauter Protest! Bedacht sein und schrill sein!
Unterstützt die Jugend!
Wir haben auch den Kontakt zum Protest auf der Straße verloren. Warum gibt es kein Bündnis mit den Kids von Fridays for Future? Natürlich weiß ich auch, dass das, was die jungen Leute fordern, nicht in der Weise und Geschwindigkeit umzusetzen ist, wie sie es gern hätten. Aber das kann uns nicht davon abhalten, den jungen Leuten zu helfen und sie zu unterstützen, wo immer es geht! Wir alten Grünen kommen alle vom Straßenprotest, waren Kernkraftgegner oder Friedensbewegte. Wir kennen den Rausch der Solidarisierung und der Selbstwirksamkeit. Wir Alten kennen auch das wohltuende Gefühl, wie es ist, wenn man als junger Mensch von älteren Mitbürgern unterstützt und ernstgenommen wird. Wir kennen auch die Macht der Straße. Daher sollten wir die jungen Leute noch mehr unterstützen und für uns selbst nach Protestformen suchen, die unserem Alter und auch unserem Lebensstil entsprechen.
Lasst uns wieder mutiger werden! Das erwartet die grüne Gesellschaft von uns.
Was unsere Zeit auch braucht, das sind auch große Gedanken. Was unsere Zeit braucht, sind große Wünsche! Warum wünschen wir uns nicht eine Welt ohne Nationen? Warum träumen wir nicht von einer Zukunft ohne Kapitalismus? Warum träumen wir nicht von einer digitalen Basisdemokratie? Wir sollten uns nicht davon abbringen lassen, denn wir haben die Erfahrung gemacht, dass aus diesen Träumen durchaus eine Realität werden kann.
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